• Hüter, Herren, Lenker

    In vielleicht fünftausend Jahren

    oder vielleicht in drei oder sieben

    Ist Planet Erde bestimmt noch da

    Doch von der Schöpfung des Lebens,

    Was ist wohl geblieben?


    Ihre Hüter versagten

    Sie verloren ihr Leben, Und sie

    Hatten den größten Schatz aller Zeiten

    Selbstsüchtig aus der Hand gegeben


    In einigen Milliarden Jahren

    Zwei oder drei oder unbekannt

    Hat ein heißer roter Riese

    Sich selbst und unsere Welt verbrannt


    Schöpfer, deine Schöpfung hätte

    So viel Zeit, Äonen lang

    Strebten Ihre Herren nicht

    Schon heute in den Untergang


    Wirst du helfen?


    Wirst du lenken?


    Oder hast du schon gelenkt?



    - Mark O’Beck, 2021, veröffentlicht im Gedichtband „Ohne Kleider“ von Jill Graf und Madeleine Hold (ISBN 9798596431674)

  • Paramount Wolken

    Der Himmel in Amerika

    Trägt Paramount Wolken über der Prärie

    In den Filmen, in den Western,

    Nur nicht zuhause über mir.


    Es gibt einen Schnitt im Himmel, 

    So als wäre der Film zusammengeklebt


    Nein, sagte Vater,

    Der Himmel ist überall gleich,

    Die Grenzen gibt es nur hier bei uns

    Auf der Erde, nicht im Himmel

    Und die Filme sind alt


    Die Wolken über mir

    Sind wie immer, wundervoll normal

    Wie in der Paramount Prärie

    Immer neu, monumental, 

    und für alle Menschen gleich.



    - Mark O’Beck, 2020

  • Am Fluss

    Too much wine and too much song, I wonder how I got along

    (Seasons In The Sun, Terry Jacks, 1974)


    Randy Brink fuhr damals mit seiner Maschine freihändig im Slalom durch die Bergstraße. Das weiß man. Das erzählt jeder. Mit leuchtenden Augen oder mit gerümpfter Nase. Alle haben ein Bild vor Augen. Randy Brink auf seiner Honda CB750 Four mit Vierzylinder Reihe und 4 in 4 Auspuffanlage. Der Tank in Glitter-Gold lackiert. Das sah schon toll aus in der Sommersonne. Man kann den Sommer noch fühlen, die Tage am Fluss und im Dorf, wenn man die Bilder vor Augen hat. Wenn man dabei war, damals, in der Zeit so um 1975 herum.


    Der Alte schaute auf die Enten und überlegte, ob es die Four nicht sogar werkseitig in Goldlackierung gegeben hatte. Da war was. Dann aber wahrscheinlich abgesetzt mit schwarzen Streifen am Tank, aber das entsprach nicht dem Bild von Randys Maschine. Die war mit Sicherheit überlackiert. Und der Lenker war auch nicht original. Der Alte meinte, in der Mitte des Lenkers wäre so eine Art Pfeilspitze gewesen, so eine Art Dorn, nach oben in Richtung des Fahrers gerichtet. Wie auf einer Pickelhaube aus dem ersten Weltkrieg. Wie auch immer, auf jeden Fall war das nicht TÜV-kompatibel, weder damals noch später. Vielleicht war das mit dem Dorn auch nicht bei Randy gewesen, vielleicht hatte er das irgendwo an einer anderen Maschine gesehen.


    Wer es wirklich gesehen hat, oder wer es einfach nur so erzählt, weil es ihm erzählt wurde, von jemandem der es gesehen oder auch nur erzählt bekommen hatte, lässt sich heute sowieso nicht so mehr genau feststellen. Wir alle, die uns diese Legenden erzählen, haben das Bild vor Augen, und wahrscheinlich alle dasselbe. Randy mit seinen langen schwarzen Locken und den großen goldenen Hakenkreuz-Ohrring-Anhängern, in seiner schwarzen kurzärmeligen Lederweste über dem nackten schlanken Oberkörper, auf seiner Honda. Wie er auf dem Hinterrad den Bürgersteig entlangrast, oder die lange Straße vom Fluss hoch zum Dorf entlang jagt, mit allem, was die Maschine hergab und mit einem richtig fetten Klang. Oder halt freihändig im Slalom in der Bergstraße, mitten im Ort, da wo die Touristenbusse auf den Großparkplatz einbiegen. Manche meinen sogar, er hätte dabei sein Frühstücksbrot verspeist. 

    Wenn jemand sagte, er hätte das mit eigenen Augen gesehen, müsste man ihn fragen, wie er sich das erklären kann, dass jemand früh morgens in seinem Nachmittags-Outfit auf dem Motorrad unterwegs ist und dabei frühstückt. Zumal dieser Jemand im Betrieb seines Vaters angestellt war, und der lag am Ortsrand weit weg von der Bergstraße. Aber sei’s drum, irgendwas ist immer dran an Legenden, und in die Hall Of Fame des Dorfes hatte Randy es auf jeden Fall geschafft. Er war nun mal eine schillernde Figur. Alle kannten Randy Brink. Die Eltern, die Nachbarn, die Lehrer, ja sogar der Pastor. Seine Maschine kannten auch alle. Es ist praktisch gar nicht möglich, Randy zu erwähnen, ohne gleichzeitig an die legendäre Honda zu denken. Manchmal konnte man sie ja sogar nachts hören. Das Ding war sowieso frisiert, denn das machte damals jeder, und wir alle wussten es.

    Das mit den Hakenkreuzen ist irgendwie merkwürdig. Randy war kein Nazi, jedenfalls ist darüber nichts bekannt. Immerhin gab es einen dorfbekannten Nazi, und in keiner Legende wird Randy mit dem in Verbindung gebracht. Als gewalttätig galt er auch nicht, und soweit es sich die Leute von damals erzählen, war er noch nicht einmal kriminell. Kein Einbruch, kein Diebstahl, keine Prügelei, soweit man sich davon erzählt hätte. Von ein paar Drogendelikten und einem Haufen Ordnungswidrigkeiten im Straßenverkehr kann man natürlich getrost ausgehen. Aber das gehörte nun mal dazu, zum guten Ton und zum schlechten Ruf. Dafür waren wohl auch die Hakenkreuze gut, als Symbol der Unangepasstheit und der Wildheit. Outlaws sind sexy! Randy kokettierte wahrscheinlich damit. Aber das kann man heute nur vermuten, wissen können wir es nicht.

    An Mädchen mangelte es Randy ganz sicher nicht. Wohl aber an ihm zugeneigten Schwiegermüttern. 

    Wir Jungs hatten keine Angst vor ihm, aber wir blieben auf Abstand. Er tat niemandem etwas, und uns Zwölfjährige nahm er noch nicht einmal wahr. Wir bewunderten den Outlaw und seine Maschine, aber besser nur von Weitem. 

    Wie Randy wirklich so war, so im Umgang, und was wohl mal aus ihm werden würde, da war man sich damals im Dorf uneins. In einem waren sich aber alle einig, ob alt oder jung, ob Bewunderer oder Naserümpfer: Der Typ hatte nicht alle Tassen im Schrank. Nun, das lag auf der Hand.


    Im Sommer gab es immer etwas zu gucken am Fluss, wenn die jungen Erwachsenen da waren, die Jungs mit ihren schnellen Autos und die Mädchen in knappen Bikinis oder sogar oben ohne. Nicht nur Randy, sondern auch die anderen vom MCW, die sich ansonsten immer am Mittwoch nach Feierabend an ihrer Stammtheke im Schnellrestaurant Pharos betranken. Durch die große Fensterfront konnte man sie am Tresen sehen. Da die Eisdiele direkt neben dem Pharos lag, konnten wir Halbwüchsigen uns dort legitim aufhalten. 

    Vielleicht betranken sie sich auch gar nicht. Wir wussten es schließlich nicht, weil wir ja nicht dabei waren. Wir gingen nur selten, sehr selten, hinein. Wir betraten den Imbiss nur, um dort mal eine Curry-Pommes rauszuholen, und wenn der MCW drinnen tagte, gingen wir besser überhaupt nicht rein. Dann holte man das Essen lieber von der Kakerlakenpiste, die natürlich nicht wirklich so hieß. Der Imbiss oben beim Großparkplatz. Eigentlich weiß keiner mehr, wie die Imbissbude dort hieß. Alle sagten nur Imbiss oder Kakerlakenpiste, und wahrscheinlich hieß die Bude tatsächlich nur Imbiss.


    Warum sollten sich die Jungs vom MCW aber auch ausgerechnet am Mittwoch betrinken, obwohl man doch normalerweise am Donnerstag wieder zur Arbeit muss. Die waren doch alle berufstätig. Mussten sie auch, denn die Sciroccos, Escorts und Pinifarinas, die 914er, 2000er und TRs und wie die alle hießen, die musste man sich doch erst mal leisten können. Wahrscheinlich betranken sie sich wirklich nicht, denn auch die beiden Dorfsheriffs von der sehr nah gelegenen Polizeistation tauchten nicht öfter dort auf als sonst, wenn die heißen Schlitten in der Parkbucht vor dem Pharos standen.

    Das M in MCW stand nicht für Motorrad, wie man denken würde, und was wohl auch gedacht werden sollte.

    Es bedeutete wohl tatsächlich Mittwoch, weil sie sich unter der Woche immer nur am Mittwoch trafen. Ohnehin hatte keiner von ihnen ein Motorrad, außer Randy. Der gehörte aber irgendwie gar nicht so wirklich richtig dazu beim MCW. Und dann irgendwie doch. Manchmal stand jedenfalls neben den Sportwagen auch die goldene Honda vor dem Pharos.


    Im Sommer am Fluss tranken sie jedenfalls alle viel Bier, machten viel Müll, hörten laut Musik und grölten viel herum. Wenn es nicht Mittwoch war. Die Mädchen quietschten und schnatterten und manchmal war eine von ihnen so besoffen, dass sie nicht merkte, dass sie ohne Oberteil herumtorkelte und ins Gras kotzte. Es gab was zu gucken im Sommer am Fluss.

     

    Fast siebzig Jahre her, dachte der Alte und starrte auf die verrostete Wasserpegel-Skala am Betonsockel der Zugbrücke. Ein weißes Stück Blech. Früher mal weiß, mit einer Skala darauf. So eine Art Lineal, dachte der Alte. Das Blech war mal weiß und senkrecht und gerade an ein Holzbrett angeschraubt worden, und das wiederum senkrecht und gerade an den Brückenpfeiler gedübelt. Jetzt war das Blech stark angerostet und baumelte offenbar nur noch an einer Schraube an dem Brett. Das Holz sieht auch nicht mehr so doll aus, aber gut, Wasser und Holz, das ist keine Verbindung für die Ewigkeit. 

    Wieso muss das so aussehen, dachte der Alte. Ich finde das ja romantisch fotogen, aber ich bin auch kein Tourist. Als Tourist würde ich mich wundern, dass man mich anlocken will, hierher in einen Luftkurort in einem Naturschutzgebiet, an einen solchen schönen Ort hier am Fluss, sogar mit kleinem Badestrand, einer historischen Brücke und einem idyllischen Restaurant direkt am Wasser, und dass man dann alles so verkommen lässt. Und wenn ich so darüber nachdenke, dachte der Alte, wundere ich mich selber eigentlich auch. Als unechter Tourist. Das Schild kann ja gerne rostig bleiben, das hält trotzdem noch ein paar Jahre. Sieht sogar authentisch aus. Aber in den Fluss fallen sollte es nicht. Nicht in einem Naturschutzgebiet, in dem man als Einheimischer eigentlich gar nichts mehr darf. Sogar die vor 150 Jahren angelegten künstlichen Kanäle hat man zu Naturarmen erklärt und die Motorboote der Anlieger mussten da weg. Als Tourist kannst du dir ein Kajak leihen und besoffen ins Schilf in die Brutstätten der Vögel fahren. Und die Sonntagstouristen schmeißen ihre Taschentücher und Hundekacketüten auf die Wanderwege, weil die Gemeinde und der Landkreis zu geizig für Mülleimer sind. Passt zu dem beschissenen Verhalten der Autofahrer, die ihre Mecces-Tüten aus dem Auto werfen. Denen müsste man mal die eigene Karre voll mit Gülle pumpen, damit … Na ja, nicht aufregen, dachte der Alte. Idioten wird es immer geben. 


    Die Straße zwischen Fluss und Dorfeingang wird gefühlt jedes Jahr breiter asphaltiert, damit die Busse mehr Kaffeegäste rankarren, aber Geld für eine sachgemäße Befestigung des Pegelmessers ist nicht da. Und wieso stellt man eine Ampelanlage in Bergedorf auf, wo man für ein kleines Vermögen erstmal Strom hinlegen muss, kann aber nicht für einen Hunni ein Stück Blech wieder rantackern?

    Bloß nicht aufregen. Was geht es dich an? Du bist gar kein Gemeindemitglied hier. Du bist ja irgendwie doch ein Tourist, wenn man so will. Touristischer Ureinwohner. 

    Der Alte schaute auf die Brücke und überlegte, was sich hier eigentlich seit damals alles verändert hat. Die Zugbrücke müsste im Wesentlichen immer noch so sein wie 1975. Sie war nie erneuert worden, höchstens mal neu übergestrichen. Soweit er wusste, war sie noch intakt, Das heißt, man müsste die Brücke noch hochklappen können, um Schiffe mit Mast oder hohen Aufbauten durchzulassen. Derartige Schiffe durften das Naturschutzgebiet aber schon seit Ewigkeiten nicht mehr befahren, also bestand zum Hochklappen wohl keine Notwendigkeit mehr. Der abgeschlossene Kasten am rechten Stahlträger war viel zu flach für einen Motor. Da ist wahrscheinlich noch die alte mechanische Übersetzung und die Kurbel drin, um die Brücke mit Muskelkraft hochzudrehen. Cool. Wenn die Brücke keinen Motor hat, kann auch keiner kaputt gehen, dachte der Alte. Das ist schon mal gut. 

    Das Geländer der Brücke lag ungefähr 3 Meter über der Wasseroberfläche. Eine gute Sprunghöhe. Im Sommer springen da auch heute noch manchmal Kinder vom Geländer. Oder sie klettern über das Geländer auf den Sims des Brückenpfeilers. Das sieht auch heldenhaft aus, ist aber nicht ganz so hoch. Hauptsache, sie halten sich an die Flussmitte, wenn sie springen. In die Fahrrinne zwischen den Pfeilern kann man hopsen. Da ist es tief genug. Das wird auch regelmäßig ausgebaggert. Bei einem Moorfluss kann man den Grund nicht sehen. Tatsächlich kann man eigentlich keinen halben Meter tief unter die Wasseroberfläche blicken. Und deshalb sollte man eigentlich gar nicht hineinspringen. Aber die Verlockung ist nun mal groß, und verdammt nochmal, zu irgendwas muss die Kindheit doch gut sein. Gut, wenn die Kids im Campingurlaub mit den Eltern Spaß haben. Besser als den ganzen Tag im Wohnmobil hocken und Ballerspiele spielen. Da sollen sie doch lieber in den Fluss hüpfen, solange sie in die Mitte springen. Ohne auf einem Touristen-Torfkahn zu landen, versteht sich, aber darauf kann man aufpassen. 

    Seitlich der Rinne könnten Äste unter der Oberfläche liegen, oder Schlimmeres. So wie früher, als da ganze Motorräder im Fluss lagen.


    Wie sie starben, die halbstarken Freaks vom MCW und später die von Iron Fist, das wissen viele Leute auch noch. Die Legenden sind noch nicht ausgestorben. Wenn man mal einen von früher trifft, und wenn dann das Gespräch auf Pocke, den Grafen oder Kemal fällt, dann kann man feststellen, dass sich die Erzähler immer wieder dieselben Geschichten erzählen. Die Legenden, die alle kennen. 

    Wer wann genau starb, da sind die Legenden unscharf. Aber das bringt ein wenig den Unterhaltungswert in die Gespräche, das gemeinsame Grübeln, in welchem Jahr das gewesen sein musste. Was war da noch so passiert? Hatte der oder jener nicht immer so ein T-Shirt mit aufgedruckten Erdbeeren an? War jener oder der nicht mit der hübschen Monika zusammen, die mit den kurzen blonden Haaren? Manche erinnern sich an die Daten oder wenigstens an das Jahr. Manche erinnern sich an Ereignisse aus dem eigenen Leben, die zu der jeweiligen Zeit stattfanden. Oder daran, welche Musik im Radio lief. Die Legende sorgt vielleicht dafür, dass es neblig war, als jemand starb, aber nicht, an welchem Septembertag, oder ob es überhaupt September war.


    Pocke und der Graf waren jünger als die Jungs vom MCW. Pockes Generation starb den 80ern oder später und stellte nach, was der MCW in den 70ern vorgeturnt hatte. Wer früh starb, starb jung. So wie Hermelin, der seinen hellblauen 2000er innerorts an eine Hausecke setzte. Scheißkurve da beim Frisör. Im Nachbardorf war Wichtel in einem Escort an einer Eiche gestorben, die danach zwei Namen eingeritzt bekam, außerhalb der Ortschaft. Die auf dem Beifahrersitz hieß Sabine. Die kannten wir vorher gar nicht. Jens-Peter überlebte einen Motorradsturz und wurde einige Monate später von einem Laster überfahren. Nachts zu Fuß betrunken mitten auf der Landstraße zwischen dem Künstlerdorf und der Kreisstadt. Wie er dahingekommen war, und warum, das hatte man nie herausgefunden. Oder dieser Aspekt hatte es nicht in die Legende geschafft, die die Story auf seinen Namen, den Suff und die Landstraße reduzierte. 

    Das war dieselbe Landstraße, auf der es auch die ewig breite Toxy erwischte, viele Jahre später aber keine hundert Meter entfernt von Jens-Peter. Schöne Stelle. Gute Asphaltdecke. Viel Grün drumherum. Im Sommer oft Rehe auf der Fahrbahn. Fünf Kilometer schnurgeradeaus. In beiden Fällen Fahrerflucht.

    Es waren oft Autounfälle. Oft mit Drogen oder Alkohol. Manchmal nur Drogen oder nur Alkohol. Eine sinnlose Verschwendung, dachte der Alte. Suizide gab es auch. Eigentlich sind Suizide auch Unfälle, dachte der Alte. Junge Menschen, die in einem Moment aus einem Affekt heraus einen Fehler machten oder eine beschissen falsche Entscheidung trafen. Hatten sie es erkannt, in den letzten Sekunden? Die Unausweichlichkeit. Das Ende der Unsterblichkeit mit neunzehn. Vor dem Aufschlag, bevor die Tabletten wirkten oder der Wodka den Schlaf erzwang. Bevor die Luft zu Ende ging.

     

    Ein Bild im Kopf von Randy, der darüber lachte, auf einer Picknick-Decke am Badestrand am Fluss, mit einer Flasche Bier in der Hand. Ein gutes Stück entfernt, aber nah genug, dass Worte wie „abkratzen“ zu uns kleineren Jungs herübertönten. Vielleicht bestand überhaupt kein Zusammenhang mit dem Hermelin, aber die Zeit könnte es gewesen sein. Vielleicht war es wirklich etwas ganz anderes, was Randy da rausposaunte, denn mit dem Hermelin hatte er schließlich am Tresen gesessen. Falls das etwas gilt.

    Damals war der Fluss schmutzig gewesen vom Abwasser der Ortschaft und der Landwirtschaft. Das Wasser stank und trug zuweilen Inseln aus Schaum, wie Seifenblasen, die sich auch an die Böschung hefteten. Die Kinder bekamen Blasen an den Lippen. Oder ihre Augen tränten. Man sagte damals, der Fluss sei nicht sauber, und noch Jahrzehnte später hieß es, der Fluss sei giftig, als er längst wieder ein gesunder Lebensraum für Tiere geworden war, die der Alte in seiner Kindheit nur selten oder gar nicht gesehen hatte. Doch schon seit Jahrzehnten gibt es wieder Silberreiher und Eisvögel. Man munkelt, dass Biber gesehen wurden, aber das könnten auch diese lästigen Nutrias sein, die seit dreißig Jahren wie Einheimische tun.  

    Als der Alte schwimmen gelernt hatte, am kleinen Badestrand des Flusses, als er es erstmalig geschafft hatte, den Fluss an einem Stück zu queren, vom seichten Strand zum anderen Ufer und zurück, da war das Wasser bestimmt verschmutzt. Schon verschmutzt, oder noch verschmutzt. Vielleicht giftig. Vielleicht noch nicht giftig genug, um ein Badeverbot auszusprechen. Das war 1969. In den Siebzigern galt häufig ein Badeverbot, wenn der Schaum dichter wurde und der Fluss zum Himmel stank. Zu einer Zeit, als man auch die Kläranlage manchmal noch bis an den Fuß des Hügels riechen konnte. Der Hügel, an dem vor Jahrhunderten die ersten Gehöfte gebaut wurden. Wie giftig auch immer, das Umweltschutz-Gelaber in der Grundschule und von diesen Langhaarigen mit den Parkas hatte die meisten Menschen damals noch nicht interessiert.


    Wer die 70er überlebte, bekam es mit den 80ern zu tun. Da mussten die Kids nicht mehr auf den Führerschein Klasse 3 und ein Auto warten, weil man sich da theoretisch schon mit 15 Jahren mit dem Mofa umbringen konnte. Theoretisch deshalb, weil es glücklicherweise keiner aus seiner Clique hingekriegt hatte, trotz gründlichster Bemühungen und mehrerer Anläufe einzelner Kandidaten. Zerschnittenes Gesicht, aber nicht tot. Arm mehrfach kompliziert gebrochen, weil der Helm am Arm nun mal cooler ist als auf dem Kopf, aber noch lebendig, und danach lernfähiger. Halskrause für ein halbes Jahr, Hüfte im Arsch, Magendurchbruch, Auge weg, alles dabei. Aber nicht tot. Nicht in seiner Gang. Glücklicherweise. Bei Iron Fist sah das anders aus. 

    Alkohol und Drogen funktionierten natürlich immer noch genauso gut wie früher. Man kam sogar besser heran. Und so kamen auch die 80er heran an ihren Blutzoll. Nicht aus der eigenen Gang, aber eigentlich kannte jeder jeden, und die Jungs von Iron Fist kannte man schon deshalb, weil man ihnen besser aus dem Weg ging. 

    Überdosis bei Pocke und Kemal. Graf Springer III fiel seinem Adelstitel zum Opfer, wie schon Graf Springer II, sein Vater. Der erste in der Ahnenreihe hatte weder den Namen noch den Titel innegehabt, wurde aber einfach mitgezählt, weil Gene ja nun mal irgendwo herkommen müssen. Und Urvater klingt doch nach was. 

    Wer es Anfang der 80er Jahre nicht mit 50 ccm Hubraum hinbekommen hatte, bekam eine zweite Chance, wenn er es sich denn leisten konnte. Die 80 Kubik-Maschinen waren schon geil, egal ob Honda, Yamaha oder Zündapp, egal ob Enduro oder Straße. Sie waren schnell und cool und früher erreichbar als ein eigenes Auto, weil man den Führerschein 1.B schon mit 16 machen konnte.

    ‚Kung Fu Fighting‘ tönte aus den Lautsprechern der Autos, oder aus den Kassettenrecordern am Strand. Oder ‚Shame, Shame, Shame‘ oder ‚Bye Bye Baby‘. Als die goldene Honda die lange Straße zwischen dem Fluss und dem Hügel entlangraste oder sich die ganze MCW Gang draußen vor der Eisdiele um Jimmys roten 914er herum versammelt hatte und den Schaden links vorne diskutierte.  

    ‚Have A Drink On Me‘ war es, als Graf Springer III besoffen oben auf dem Kontergewicht der Zugbrücke saß, weil er nicht wieder herunterklettern konnte. Unten auf dem Gras am Ufer lief das gerade frisch herausgekommene Album ‚Back In Black‘ auf Kassette. Die Jungs in ihren Lederjacken mit den Jeanskutten lachten. 

    Um da oben raufzukommen, auf das Gegengewicht aus Stahl, musste man die Zugstange hinaufklettern. Der Graf hatte es geschafft, zwei Flaschen Beck’s heil mit nach oben zu nehmen. Bier war für ihn eher ein leichtes Erfrischungsgetränk. Vielleicht wollte er ausnüchtern. Nun saß er da oben in sieben Metern Höhe über dem Wasserspiegel, vier Meter über der asphaltierten Fahrbahn der Brücke, in seiner Lederkluft, trank das Bier und machte Sprüche. 

    Rauf ist immer leichter als runter. Das hatte der Graf auch gemerkt. Die erste Bierflasche flog leer in den Fluss, ein wenig später die zweite, und schließlich sprang Springer III voll hinterher. Nicht in die Flussmitte, wo schon die Flaschen schwammen, sondern eher weiter zum Ufer hin, wo man auf keinen Fall hinspringen soll. Die Jungs im Gras grölten und schimpften, weil der Graf zu früh gesprungen war und sie ‚Hells Bells‘ noch nicht zurechtgespult hatten. Für einen Moment grölte aber nur Brian Johnson, nämlich während des Fluges. In dem Augenblick, als es Wahrheit wurde, dass der Graf springt, hielten alle die Luft an. Wahrscheinlich kam sogar leichtes Entsetzen auf, denn nach einer halben Sekunde in der Luft wurde die Flugbahn offensichtlich. Zwischen dem Urschrei beim Absprung und der Arschbombe am seichten Rand, wo Steine und Äste im Wasser liegen können, waren die Jungs still. Ganz kurz. Aber als die Fontäne wieder in den Fluss fiel und der Graf wieder an der Wasseroberfläche auftauchte und breit grinste, wurde es sofort wieder laut im Gras, da war der Tag vollkommen. Legendär.


    Vor einiger Zeit, im Sommer, im Biergarten der anderen Hütte, ungefähr drei Kilometer den Fluss runter, hatte der Alte verzückt eine Gruppe von Männern in Lederjacken und Jeanskutten beobachtet. Die geschätzt fünfzehn zwanzig Kerle waren so etwa in seinem Alter. Sie tranken Cola, Radler oder Kaffee, aber sie gehörten klar erkennbar zu der Flotte alter Mofas, die bei den Fahrradständern geparkt standen. Mit Kettenschlössern. Einige Hercules aus der M-Reihe, einige Bergsteiger, eine Sparta, eine Puch. Eine wunderschöne Silber-Orange Kreidler Flory war auch dabei und eine grüne G3. Alle super herausgeputzt, und wie sich das gehört mit Rückspiegeln aufgemotzt. Eine M3 sogar mit Fuchsschwanz an den Lenkerenden. Ja, war schon cool damals, hatte der Alte gedacht, als er die Truppe beobachtete und die Mofas inspiziert hatte. Auch wenn es einem heute ziemlich lächerlich vorkommt, mit 25 km/h Klamotten zu tragen wie ein Rocker.  

    Nun fuhren die meisten Kisten damals aber eigentlich nicht nur 25, sondern um die 40, manche bis zu 70 km/h, nachdem sie frisiert worden waren. Als erstes wurde der Krümmer abgesägt, das Stück Rohr zwischen Motor und Auspuff. Das war Pflicht. Ob das eine Maschine wirklich schneller macht, da schieden sich die Geister. Schaden tut’s nicht, da war man sich einig. Das kleine Ritzel verbesserte nachgewiesenermaßen die Endgeschwindigkeit, nur beim Hochstart musste man etwas tricksen. Manch einer prahlte mit einem plangeschliffenen Zylinderkopf. Mick behauptete, die Drossel gefunden und entfernt zu haben. Alles klar. Die Drossel. Einen Vogel hatte der, das war alles. Mick war der mit dem Magendurchbruch gewesen. Mofa gegen Eiche, Lenker quer im Magen. Krankenwagen nicht erwünscht. Dann hätte er ja nicht mit uns in den Wald gekonnt, mit den zwei Flaschen Pernod und den Mädchen.


    Einige Tunings schienen aber zu funktionieren. Rolli soll mit seiner Sparta zwei Mal einen Polizeiwagen überholt haben. Einmal innerorts, was ihm ordentlich Ärger einbrachte, und einmal außerorts, angeblich mit 110 km/h, was ihn die Sparta kostete. Fortan war Rolli innerorts Fußgänger, außerorts Tramper oder Busfahrer, hinten sitzend. War wahrscheinlich auch besser für ihn. Sonst hätte er die 80er wahrscheinlich auch nicht überstanden. Noch nach Jahrzehnten, wenn Rolli erwähnt wurde, was selten passierte, grinsten immer alle, und einer sagte es schließlich, das Wort. Baugrube. Ein legendärer Abend. Das muss im März gewesen sein. Es war so neblig, dass wir sicher waren, dass unser Lagerfeuer am Fluss, da wo der Feldweg vor einem großen Eisengatter endet, nicht von der Brücke aus zu sehen ist. 

    Erst fiel Schnorchel besoffen in den arschkalten Fluss und saß eine Weile zitternd und fluchend am Feuer, bis er mit dem einzigen Auto, das wir dahatten, abtransportiert wurde. Später dann, nachdem wir das Grillrost wieder vor dem Haupteingang der Grundschule eingesetzt hatten, trafen wir uns mit allen Mofas und Mopeds auf dem großen Parkplatz in der Bergstraße. Wenn man sich im Laufe des Abends aus den Augen verloren hatte, da fand man sich wieder. Schnorchel kam auch wieder dazu, zusammen mit Platte, seinem Rettungsfahrer. Platte war etwas älter als wir, aber seine Freundin Peggy war mit Capri in einer Klasse gewesen und die beiden waren wie Bruder und Schwester. Da Peggy fester Bestandteil unserer Gang war, war auch Platte in unserem Dunstkreis. Ein Auto war willkommen. Damit kann man besser Bier holen, als mit Mopeds. 

    Zählappell auf dem Parkplatz. Wo ist Rolli? Alles wieder in den Sattel, Helme auf und die ganze Strecke zurück. Raus aus dem Ort, den Hügel runter durch den Nebel bis zur langen Straße, die zum Fluss führt. Und an der Kreuzung bei der alten Jugendherberge fanden wir Rolli, auf dem Boden sitzend, neben einem Erdloch.In dem Loch lag seine Sparta. Baugrube, echt beschissen abgesichert. Zerrissenes, rot-weiß gestreiftes Markierungsband flatterte noch zwischen den Eisenstäben. Aber keine Beleuchtung, noch nicht mal ein Warnschild.

    Vorhin war der Graf mit Pocke und dem verzinkten Trittrost vor der Jugendherberge abgebogen, in die Straße, wo die Maschinenfabrik lag, und bis zur Schule gefahren. Alle anderen waren an der Jugendherberge vorbeigefahren und dann links in die Kreisstraße eingebogen. Nachts konnte man bestens sehen, ob da links oder rechts Autos kommen. Anhalten überflüssig, blinken sowieso. Nur Rolli hatte die Kurve in die Kreisstraße stuntmäßig eng genommen und war anstatt auf die Straße lieber in den Fahrradweg gerast, zwischen den Eichen hindurch und direkt in die Baugrube.     

    Rolli hatte alleine aus der Grube klettern können. Die Knie seiner Jeans, die Schuhe, die Ellenbogen, alles matschig. Sogar der Helm sah aus wie Sau. Gut, dass Rolli den aufhatte. Er war unverletzt. 

    Sein Überschallmofa mussten wir zu viert aus dem Loch rauswuchten. Die Lampe saß auf halb neun und der Lenker war in der Halterung nach vorne verdreht. Die Räder nicht verbogen, Kette drauf, Pedalen gerade, Zündkabel steckte drauf. Die Kiste sprang an. Die Lampe ging nicht. Ordentlich draufhauen. Die Lampe ging. Sattel abwischen, weiter. Nach dem Einsatz brauchten wir Bier. Legendenbildung macht durstig.


    Tja, alles fast siebzig Jahre her, dachte der Alte, als er sich dem Parkplatz näherte, wo die Parkgebühren schon mit diesem blöden Transponder gemessen wurden. Wenn das man alles richtig funktioniert, dachte er sich. 

    Der Alte schaute auf die Busse, die wie Raumschiffe aussahen, und sagte „mach auf!“ zu seinem Auto. Die Fahrertür faltete sich nach oben. Gott sei Dank geht das inzwischen wieder ohne Telefon, dachte der Alte, aber mit so’m altmodischen Schlüssel wäre das noch viel besser. Gleich fragt mich das Scheißding wieder, wo ich hinwill. Wieso, verdammt? Wieso muss ich wissen, wohin ich will. Ich schau mich doch bloß um. 

    Wieso muss man für jeden Scheiß ein Ziel haben?



    - Mark O’Beck, September 2025

  • Schneemann

    Der kalte Bursche mit der roten Nase

    Sah wirklich schon mal besser aus

    Wie Letzten Dienstag, im Park auf dem Rasen.


    Frisch gerollt war er da, Schneeweiß und klar.

    Ohne Flecken, ohne Schmutz, ohne Ruß.


    Da war es noch eisig kalt, am Dienstag 

    Und der Himmel war rot am Abend

    Und der Schneemann stand inmitten

    Von Pudelmützen, Lachen und Rodelschlitten

    Auf dem lichten Platz im Park


    Die Luft ist anders jetzt, heute Morgen.

    Ungemütlich immer noch, aber komisch warm.


    Es wird wohl regnen.



    - Mark O’Beck, 2019

  • Gertrud

    Die im Folgenden geschilderte unwahre Geschichte handelt von einem Ehepaar, das ich gut kenne, und ein wenig handelt die Geschichte auch von ihren sechs Hunden. Die heißen Dave, Dee, Dozy, Beaky, Mick und Gertrud. Aber ich fange mal lieber etwas weiter vorher an:


    Das Paar – ich bezeichne sie der Einfachheit halber als er und sie, oder als die beiden, oder als mein Kumpel und seine Frau, oder vielleicht auch mal als O & B, weil das ihre Initialen sind – geht auf das Seniorenalter zu. Die Kinder sind längst erwachsen und aus dem Haus. Sie ist bereits in Frührente, und auch er macht keinen Hehl daraus, dass er keinen Tag länger arbeiten wird, als das notwendig ist. Demnächst hat er einen Termin zur Rentenberatung, wie er sein Umfeld wissen lässt.

    Überstunden macht er schon lange nicht mehr, und wenn er es in seltenen Fällen doch mal muss, dann feiert er sie schnell wieder ab. Wegen der Work-Life-Balance. Das ist schließlich kein Vorrecht der Generation Y oder Z, oder wo immer die damit gerade sind beim Hochzählen von Generationen. Weil man Zeit nun mal nicht mit Geld aufwiegen kann.


    Ich habe eigentlich nie rausgefunden, warum er seine Arbeit nicht mag. Ich weiß zwar, dass ohne ihn nichts läuft und dass ihn viele seiner Kollegen trotzdem nicht wertschätzen, aber ich habe keinen Schimmer, ob er mit sich selbst und seinem Beitrag zur Leistung des Unternehmens zufrieden ist. Ob er in seinem Job einen Sinn sieht. Sie, seine Frau, hat definitiv nie einen Sinn in ihrem Job gesehen. Sie hat halbtags gearbeitet, weil sie das Einkommen brauchten, nicht weil sie sich eine Beschäftigung oder eine sinnstiftende Tätigkeit wünschte. Warum sie das machen musste, was sie machen musste, konnte sie nie verständlich erklären. Obwohl es uns alle interessiert hat, wie es bei der Abrechnungsstelle bei den Stadtwerken so läuft, und warum man die Rechnungen nicht verstehen kann.

    Beide sagen, dass die Arbeit einen vom Leben abhält, und dass man nach 45 Jahren dem Staat nichts mehr schuldig ist, und dass man es sich verdient hat, endlich mal Zeit für sich selber zu haben.


    Die Wohnung der beiden ist nicht zu groß und nicht zu klein. Wenn die Kinder mal kommen und über Nacht bleiben, dann wird im jeweiligen früheren Kinderzimmer des Gastes das Bett frisch bezogen. Und wenn die Kinder eines Tages mit Kindern kommen sollten, na, dann findet sich bestimmt auch eine bequeme Lösung. Wär‘ doch gelacht.

    Aber die Kinder kommen ja gar nicht so häufig. Wenn man’s genau nimmt, fast gar nicht. Mal überlegen, wann ich die Kinder des Paares überhaupt das letzte Mal gesehen habe. Hui, das könnte schon … nee, im Ernst, das war wohl zur Silberhochzeit, und die war lange bevor die Ukrainer nebenan eingezogen sind. Meine Güte, die Zeit rennt. Ich weiß noch, wie … ach, das spielt eigentlich jetzt auch keine große Rolle. Jedenfalls kenne ich das Paar sehr gut, und wenn ich die Kinder lange nicht gesehen habe, dann kommen die wohl wirklich selten.


    Mehr Zeit für sich zu haben, das hätte man sich ja verdient, nachdem die Firma und der Staat einen so viele Jahre ausgenutzt haben. Guck mal, das meiste geht ja für Steuern und Sozialversicherung weg, und wofür? Man opfert seine ganze Zeit, ist ständig im Stress, und übrig bleibt fast nichts. Und danken tut einem das keiner, die Lorbeeren ernten andere. 

    An dieser Stelle kommt meistens das Auto seines Chefs ins Spiel, das jedes Mal etwas teurer wird und das immer direkt am Haupteingang parkt, während er morgens vom Parkplatz durch den Regen laufen muss. 

    Nein, nach so viele Jahren Maloche hat man es verdient, einfach mal Zeit für sich zu haben. Noch ein paar Jahre richtig leben. Zeit für seine Hobbies, Zeit für die Kinder und Enkel, Zeit für Neues. Träume erfüllen.


    Das hört man ja viel. Da kann man auch nichts gegen sagen. Manche arbeiten lange auf die Rente hin und sparen sehr lange im Voraus auf etwas, um sich dann im Ruhestand einen Traum zu erfüllen. Finde ich cool, wahrscheinlich, weil ich das nie hingekriegt habe, das mit dem Sparen. Alles, was ich mir zusammengespart habe, was eigentlich mal für später, also bis sechzig oder so, auf der unerreichbar hohen Kante liegen bleiben sollte, habe ich irgendwann angezapft, um mir meine kleinen Träumchen zwischendurch zu erfüllen. So wie die Outdoorküche im Pavillon. Oder was Fernseher angeht, da habe ich gerne immer das Größte und Beste, was es gibt. Das geht nicht alles so aus der Portokasse. Da ist ein vernünftiges Gehalt schon hilfreich, aber damit meine ich natürlich nicht, dass man sich jeden Monat vom laufenden Gehalt jeden spontanen Wunsch erfüllen kann. Für das ein oder andere muss man schon etwas sparen. Oder finanzieren. Dann muss man es hinterher sparen. Wie dem auch sei, am Ende kommt alles aus dem Gehalt. Und von meinem Gehalt bleibt halt nicht übermäßig viel auf der ganz hohen Kante liegen. Andere können das. Cool! Die können sich dann im Rentenalter ihren langjährigen Lebenstraum erfüllen. Ein Boot, zum Beispiel. Ein Segelboot, wie man es immer im Urlaub vom Steg aus bewundert hat. Das muss wundervoll sein. Du bist Herr und Meister über dein Boot und trotzt den Naturgewalten. Bei Wind und Wellen, bei Sonnenschein und bei Regen. 

    Oder ein Wohnmobil. Spontan an die Adria und immer den eigenen Hausstand dabei. Ein verlockender Gedanke.


    Wovon er denn nachts träume? Ein Segelboot? Erstens habe er keinen Segelschein, und er verstünde ohnehin nichts vom Segeln, und überhaupt, ob ich denn eine Vorstellung davon habe, was so ein Ding kostet. Und zwar nicht nur in der Anschaffung, sondern auch mit den ganzen Betriebskosten. Wartung, Pflege, Unterbringung und so weiter. Und wie viele schöne Sonnentage hätten wir denn überhaupt, wenn man mal ehrlich ist. Das Wetter ist meistens mies, und für ein paar Tage im Jahr das ganze Jahr über Kohle rausschmeißen. Nee, das wäre nix für ihn. Da müsste er ja auf alle anderen Annehmlichkeiten des Lebens verzichten, nur für drei Mal im Jahr nass werden. Nee, man müsse Prioritäten setzen.

    Okay, das hatte ich alles nicht bedacht. Aber er hat natürlich recht. Wenn man an ein Segelboot denkt, hat man immer ein perfektes Bild vor Augen, immer mit Sonne, Wind, Abenteuer, Spaß. So ist das aber gar nicht. Nicht an Nord- und Ostsee. Die tollen Fotos, die wir vor Augen haben, die werden bei Sonnenschein gemacht. Die ganzen Regentage werden nicht fotografiert. Da hat er wirklich recht. Und dann die ganzen Kosten. Wenn man die Kohle nicht wirklich und buchstäblich überhat, dann kann man sich das kaum leisten. Oder man muss sein ganzes Leben umkrempeln. So in Richtung Aussteiger. Leben am Level Zero. Aber das ist nicht jedermanns Sache. Meine eher auch nicht. 

    Und einen richtig guten komfortablen Wohnwagen, fragte ich mal irgendwann, ihr habt doch gerne Campingurlaub gemacht. Das hat euch doch immer gefallen. Ich gebe zu, ich war die ganze Zeit sicher gewesen, dass bei den beiden so ein Lebenstraum-Erfüllungsding schlummert, dass sie einen Plan haben.

    Hatten sie nicht. Bei einem Wohnwagen oder Wohnmobil sei das ja dasselbe in grün wie bei einem Boot. Hohe ständige Kosten, wenig Gelegenheit. Weil, und man merke sehr wohl, sagte er – sie sagte eigentlich nie so richtig viel – dass ich nun so gar kein Gefühl dafür hätte, was allein der Kleingarten für Arbeit mache. Touché. Habe ich nicht. 

    Es standen also weder ein Boot noch ein Wohnmobil auf der Agenda. Ich war etwas verunsichert, weil mir jetzt so spontan auch keine Hobbies der beiden einfielen. Sie hatten keine Ehrenämter, machten keinen Sport, keine Malerei oder Fotografie, keine Haustiere, Briefmarken, Oldtimer, Stricken, Modellbau, was auch immer. Okay, der Kleingarten. Die Parzelle. Darum muss man sich kümmern. Glaube ich. Muss man? Vor allem, taten sie das? Ich war nicht so oft dort gewesen. Mal zum Grillen. Ich hatte ein Federballspiel mitgenommen, mit extra vielen Ersatzbällen, weil ja immer welche in die Büsche fliegen. Aber dafür reichte der Platz nicht. Nach zwei Nackensteaks und zwei Bier saßen wir nur auf den Gartenstühlen und quatschten so das übliche Zeugs. Rasenmäher kaputt, aber bei der kleinen Fläche reiche wohl ein mechanischer Spindelrasenmäher. Stauden pflanzen oder ein Kräuterbeet anlegen, wozu? Drinnen weiter ausbauen, damit man hier auch übernachten kann, ach was, die zehn Kilometer kann man auch nach Hause fahren. Eine Internetleitung wäre gut hier draußen, wegen Fußball, weil der alte Parabolspiegel auch nicht mehr zeitgemäß sei. Auf der anderen Seite, zum Fußball will man ja auch mal mehr als nur ein Bier trinken, und denn wieder nach Hause, na, wie das so ist.


    Ich hatte wirklich geglaubt, ohne da je nachgefragt zu haben, dass jetzt was Neues auf dem Programm stünde, so kurz vor dem gemeinsamen Ruhestand. Vom Segelfliegen bis Polarexpedition. Irgendwas. Das Geld müssten sie eigentlich haben. Ich war etwas irritiert.


    Man braucht schließlich etwas um die Ohren, finde ich. Deshalb habe ich das mit meiner eigenen Rente gar nicht so richtig eilig. Keine Schulden, keine Verpflichtungen, keine Kinder, halbwegs gesund, was will man mehr. Da kann man ein wenig reisen, Konzerte besuchen, eine Dauerkarte im Stadion, immer den neuesten fetten Fernseher an der Wand, aber das erwähnte ich ja bereits. Das kann man alles genießen, aber zugegebenermaßen, das kostet doch alles ein wenig mehr, als eine Durchschnittsrente so abwirft. Wenn ich das alles weiter so behalten will, dann brauche ich wohl auch zukünftig ein Einkommen, das mit der Rente kaum abgedeckt ist. 

    Nun ja, kein Problem, ich arbeite gerne und meinetwegen auch noch bis siebzig oder so. Ich mach mich in der Firma nicht tot, und die Kohle stimmt. Work-Life-Balance scheine ich nicht zu brauchen. Oder ich habe sie und merke es nicht. Die Arbeit versaut mir nicht den Tag. Meistens nicht. Und wenn ich mich eines Tages etwas mehr einschränken muss, nun denn, dann möge es so sein.


    Lange bevor er sie kennenlernte, kannten er und ich uns schon. Erst nur vom Sehen, dann vom Grüßen, dann vom Klönen, als wir uns beide zufällig im AC/DC Shirt in der Raucherecke trafen. Bald stellten wir fest, dass die andere alte Kreidler Florett auf dem Campus dem jeweils anderen gehörte. Aus Rauchereckenkumpels wurden Freunde, als wir uns am Samstag im Lahaina über den Weg liefen, wieder zufällig. Er war mit seiner Clique da, ich mit meiner. Ein paar Wochen später war aus zwei kleinen Gangs quasi eine vermischte große Gang geworden. Das war eine Zeit, in der die besoffene Idee, am nächsten Wochenende alle gemeinsam über die Fehmarn-Sund Brücke zu fahren und am Strand ein Flens zu trinken, auch wirklich am nächsten Wochenende umgesetzt wurde.


    Ihr wollt euch also beide so schnell wie möglich zur Ruhe setzen, weil …? Hätte ich die Frage bloß nicht gestellt.

    Warum ich das so vorwurfsvoll frage? Sei damit irgendwas nicht in Ordnung, wenn man nach der lebenslangen Plackerei endlich mal Freizeit genießen möchte, ohne daran zu denken, nach 14 Tagen wieder in die Tretmühle zurück zu müssen? Das hieße schließlich aus gutem Grund wohlverdienter Ruhestand, … mein Lieber. Und in einer halben Stunde ist Bundesliga, dann ist hier Ground Zero. Ich könne bleiben, Bier sei genug da, auf jeden Fall dann bitte keine Ablenkungen. Jetzt ist Wochenende. 

    Okay, da war ich wohl in ein Fettnäpfchen gelatscht. Warum auch immer.


    Die Zeit verging, der Winter kam und auch der nächste Sommer. Ich hatte die Idee, mal wieder was unter Kerlen zu unternehmen. Mal ein paar Tage ohne die Frauen. Was man sonst nicht so macht, was mit richtig Adrenalin. Let the good times roll. Aber mein alter AC/DC-Kleidler Florett-Buddy wollte sich zuerst nicht festlegen, wegen der Termine, und sagte am Ende kurz vorher ganz ab. Am Ende waren wir eine Handvoll Jungs, aber leider nicht vollständig im Sinne des harten Kerns der alten Lahaina-Gang. Gleitschirmfliegen im Allgäu – Anfängerkurs mit Halbpension. Abends vergleichende Biergartenforschung.


    Am zweiten Abend schaute ich auf mein Handy und traute meinen Augen kaum: Eine Nachricht von O, mit angehängtem Foto, darauf ein Haufen Köpfe, die in die Kamera guckten. Was zum Teufel ist das, dachte ich, obwohl ich sehr wohl gut erkennen konnte, was zum Teufel das war. Zwei Gesichter kannte ich: B & O. Sie strahlte, und er lächelte. Die anderen Köpfe gehörten keiner humanoiden Spezies an. 

    Der Text lautete Das sind Dave, Dee, Dozy, Beaky, Mick und Titch. Life is Rock‘n Roll.


    Bevor ich jetzt näher auf die Situation eingehe und wie ich sie anfänglich einschätzte, möchte ich zwei Dinge klarstellen: Dave und Dee sind nicht zwei Personen, sondern Dave Dee ist eine einzige, und Tich schreibt sich ohne t in der Mitte. 


    Das Erste, was ich dachte, war Ach, du Scheiße, und das Zweite war Wie viele sind’n das?

    Moment mal … eins, zwei, drei … das sind sechs Hunde! Kleine Hunde, würde ich sagen. Ich habe von Hunden überhaupt keine Ahnung, aber das sah mir nach Welpen aus. Mein Hefeweizen kam, und ich inhalierte auch gleich die Hälfte, während die anderen noch die Gläser zum Prosten in die Luft hielten. Dann sah ich wieder auf das Bild. Sechs, zugegeben sehr niedliche Welpen schauten neugierig und aufgeregt in die Kamera, oder was wahrscheinlicher ist, knapp daran vorbei. B strahlte wie eine frischgebackene Oma, O lächelte wie …, ja wie lächelte er? Aufgesetzt? Ich machte das Foto größer. Nee, aufgesetzt wirkte das Lächeln nicht. Schicksalsergeben? Irgendwie auch nicht. Wieso auch? Vielleicht, weil die ihm übers Wochenende die ganze Bude durcheinanderbringen? Weil er nicht in Ruhe Fußball gucken kann? Weil er zwar zwei alte Kinderzimmer vorhält, aber gar keinen Raum für vierbeinige Übernachtungsgäste … Moment. Übernachtungsgäste? Wochenende? Ich starrte auf das Foto. Das sah überhaupt nicht aus wie ein Schnappschuss mit Wochenend-Übernachtungsgästen. Weichzeichner-Objektiv, oder wie das auch immer funktioniert mit den verschwommenen Rändern. Harmonischer dunkler Hintergrund, O und B in weißen Klamotten, mit sechs bunten Hunden, perfekt arrangiert, mit Blitzlicht, voll professionell. Das gibt’s doch gar nicht, das war eine Studioaufnahme. Die tragen doch nie weiße Klamotten, die beiden. Ich trank das Bier aus. Da hat aber jemand Brand, sagte einer der Jungs neben mir auf der Bank, und alle lachten.


    Wie alt ist überhaupt die Nachricht? Heute Nachmittag. Da waren wir in der Luft. Ich tippte in mein Handy: Was ist passiert? Es dauerte nicht lange: Wir haben Zuwachs, und ein Smiley. Ich: Sechs Hunde? Er: Das sind Welpen. Ja. 6. Waren im Tierheim. Eigentlich wegen 1 Welpe. Ist anders gekommen. Muss mich kümmern. Bis bald, HG, O.  

    Das ist ja’n Ding, murmelte ich vor mich hin und guckte nach der Kellnerin. 


    Wie alle richtig miesen Geschichten fangen auch Ausreden immer mit Also, das war so an. Das war nämlich so, dass B schon länger versucht hatte, ihm einen Hund unterzujubeln. So sagte er das aber nicht. Er sagte schmackhaft machen, nicht unterjubeln. Okay, sorry, das ist meine Bewertung. Nein, das steht mir nicht zu, korrekt, das ist …, das war mein erster Eindruck. Ich muss inzwischen zugeben, dass weder der erste Gedanke noch eine Bewertung von außerhalb automatisch zutreffend sein müssen. Nur weil ich das dachte oder so einschätzte, muss das nicht richtig sein. Okay, kapiert.

    Aber dass man loszieht, zum Tierheim, nur um mal zu gucken, ob da nicht vielleicht gerade aktuell ein Hund wohnt, wo gleich die Chemie stimmt. Wo gleich der Funke überspringt. Wo man denkt, das hat so sein sollen, der gehört zu uns. Dass man im Tierheim nach einem – wohlgemerkt einem – Hund guckt, der vielleicht geeignet ist, und dann an Ort und Stelle gleich einen ganzen Wurf adoptiert, einen ganzen Sechserträger, das ist schon echt strange, sagte ich. Wenn du dir da mal nicht zu viel an die Backen geholt hast. 

    Na ja, sagte mein alter Kumpel, du warst erstens nicht dabei, als sich der Gedankenprozess so nach und nach langsam entwickelte, und du warst auch nicht mit im Tierheim. Eigentlich gehst du gerade mal wieder nur von dir aus und meinst, es kann nur richtig sein, was du richtig findest. 


    Na, so hatte ich das doch gar nicht gemeint. Man muss doch nicht gleich muksch werden, oder? Und was soll das jetzt überhaupt, es geht doch gar nicht um mich.


    Sorry, sagte ich, so habe ich das nicht gemeint. Werd mal nicht gleich muksch. Es geht ja nicht um mich. Ich muss zugeben, dass ich immer etwas irritiert war, dass du dich auf den Ruhestand freust, dass du aber überhaupt nichts damit anzufangen weißt. Außer das tun, was du immer schon getan hast. So hört sich das für mich immer an. Da habe ich einfach die Befürchtung, dass du unzufrieden mit dir und der Welt sein wirst, weil du eigentlich gar keine Verpflichtungen willst. Weil du nichts ändern möchtest. Weil du, entschuldige, ist nur ein Beispiel, lieber in Ruhe Bundesliga guckst, als etwas Neues auszuprobieren. 

    Hör zu, mein Alter, sagte O. Vielleicht bin ich nicht immer so spontan wie du, vielleicht bin ich ein Mensch, der etwas vorsichtiger an alles rangeht. Vielleicht habe ich deshalb nicht eine solche Karriere gemacht, wie du, und ganz sicher lief bei mir nicht alles immer so hipp und schickimicki wie bei dir. Aber, vielleicht wollte ich das auch gar nicht. Vielleicht läuft bei mir in meinem Leben nicht immer alles so, wie du dir das vorstellst, wie es gefälligst zu laufen hat. Das muss es aber auch gar nicht, weil es ja gar nicht dein Leben ist. Und selbst wenn bei mir nicht immer alles so läuft, wie ich es mir selber vorstelle, ist es auch dann überhaupt nicht deine Baustelle, sondern meine. Und mal ehrlich, du hast keine Kinder, weil du nie welche wolltest, bist aber dreimal geschieden, deine zwei Geschwister reden nicht mit dir. Alter, ich glaube, dass auch bei dir nicht alles immer so läuft, wie du dir das gedacht hast. Nimm mir das nicht übel, bitte, aber du redest manchmal so, als würde das Leben einem Skript folgen, so wie deine Programme das tun. Nehme ich an.


    Er lächelte wieder dieses seltsame Lächeln wie auf dem Welpenfoto. Das Leben folgt aber keinem Skript, setzte O nach.


    Ich spürte einen Kloß in der Magengegend. Bevor ich etwas zu meiner Verteidigung stammeln oder der Augenblick noch erniedrigender werden konnte, sagte O, ich solle mich setzen, er hole uns erst mal ein Bier. Das gab mir Zeit, mich zu sortieren. Wenn ich nur wüsste, wo man da anfängt.


    Pass mal auf, sagte O, als er sich zu mir setzte, hör zu und quatsch nicht dazwischen, okay? Wir stießen mit den Flaschenhälsen an und tranken erst mal einen ordentlichen Schluck. 

    Der Gedankenprozess ist zwar etwas länger gelaufen, aber am Ende nahm er dann doch Fahrt auf. Und du bekommst jetzt eh nur die Kurzfassung, sagte er.

    Uns einen Hund zuzulegen, ist kein neuer Gedanke. Meine Teuerste wünscht sich das schon etwas länger, ich musste mich damit erst mal anfreunden. Ja, ich bin ein Gewohnheitstier.  

    Einfach nichts machen und abwarten, dachte ich, das geht schon wieder vorbei. Das ist ja häufig so, dass man sich in einen Gedanken verliebt, so wie du mit deinem ewigen Gedrängel, man brauche ein Boot oder einen Wohnwagen. So ein Gedanke ist ja immer ganz nett, bis man die Konsequenzen an den Hacken hat. So wie du immer meinst, wie toll das ist, wenn ein Boot im Sonnenschein durch die Wellen gleitet, stellt meine Teuerste sich vor, wie ein Hund neben einem herläuft oder Stöckchen holt oder sich zu dir kuschelt. Dass der aber auch Futter braucht oder öfter mal zum Tierarzt muss, das blendet man ja erst mal aus. Auch das mit dem Gassi gehen, das stellt man sich immer so romantisch vor. Wenn du zum Hundehalter sagst, hey, so’n Hund muss täglich zwei, drei Mal raus, dann kriegst du zu hören, ja, dann kommt man endlich mal vor die Tür. Super Argument. Echt. B und ich vor die Tür, wenn einem der Graupel waagerecht ins Gesicht weht. Du weißt, was ich meine. Und wer ist dann schlecht gelaunt, wenn der Köter den ganzen Schneematsch mit reinschleppt? Ich nämlich nicht. Ich darf mir das ganze Gequake aber anhören. Und den Flur wischen. Während B den Hund badet, weil der ja so süß ist.

    O lachte und trank. Kein sarkastisches Lachen, sondern ein amüsiertes. Das war meine Meinung dazu, sagte er. Die Argumente habe ich alle vorgebracht. Dann habe ich gewartet, bis der Wunsch bei B wieder verblasst. Die hat aber irgendwann gesagt, wir könnten uns doch einfach mal im Tierheim umsehen. Nur gucken. Alles klar! Nachtigall, ick hör dir trapsen. Der Plan war ja wohl durchschaubar. Ich soll die Viecher niedlich finden und Mitleid kriegen, und schon haben wir auf der Rückfahrt acht Beine im Auto. Ja, ja! 

    Nee, nur gucken, hat B mir versprochen, ganz ehrlich. Mal gucken, wie sie dann darüber denke, ob sie dann vielleicht ihre Meinung ändere, meinte sie. 

    Also, das Ende vom Lied: Ich habe mich breitschlagen lassen, und wir sind zum Tierheim. Klar, hätte ich wissen müssen, dass B’s Versprechen nicht allzu viel wert sind. Ich fahr ja auch mit zum Weserpark, weil B Schuhe gucken will. Nur gucken. Und dann schlepp ich die Tüte. Er lächelte dieses komische belustigte Lächeln, mit verschmitzten Augen. Verliebte leuchtende Augen. Was ist das denn? 

    Lange Rede ohne Sinn, sagte O, wir also zum Tierheim. Nur gucken. Und zu gucken gab’s da einiges. Und Scheiße, so habe ich mir das nicht vorgestellt. Ich war keine fünf Minuten drin in dem Laden, da war mir klar, dass mich die Schicksale der Tiere berühren. Ich weiß nicht, was die erlebt haben, aber du kriegst schnell das Gefühl, dass du handeln musst. Fast, als ob es meine Pflicht wäre, wenigstens einen zu retten. Um ehrlich zu sein, ich weiß doch gar nicht wirklich, ob es den Hunden im Heim gut oder schlecht geh. Gut, denke ich, klar, dafür ist das ja da, aber ob sich jemand wirklich um die einzelnen Hunde kümmert, da hatte ich auch vor Ort kein Gefühl für. Du hörst von den Mitarbeitern viel tierliebes Zeug, logisch, und von Spenden und zu wenig Geld, und dass jedes Hündchen ein schönes Zuhause verdient. Du weißt ja, in gute Hände abzugeben und so. Die tun also super tierlieb, und gleichzeitig suggerieren sie dir, dass die Tiere es bei dir noch besser haben. 

    Ich wollte den Mund aufmachen, kam aber nicht weit. Ich weiß, ich weiß, das gehört zu deren Arbeit dazu, sagte O. Die versuchen, dein Herz zu erwärmen, und weißt du was? Bei mir hat’s geklappt. Und wieder lächelte er dieses irritierende Lächeln, das ich früher nicht an ihm kannte. Oder nicht gesehen hatte?


    B hatte wohl ordentlich gequietscht, so in der Ferne, in einem anderen Raum oder Gehege oder Saal oder wie man das in einem Tierheim so nennt. So laut, dass O das durch den Korridor hören konnte und erschrak. So laut, dass er in der ersten Zehntelsekunde dachte, sie sei gebissen worden. Aber während er durch den Korridor hastete, hörte er erneutes Quietschen und ein lautes Oooooaaaaah, neee! So wusste er bereits bevor er B erreichte, dass es ihr gut ging. Weil das ein Verzückungsschrei war. Und er auch sah, warum. Wegen der sechs hektischen hellbraunen Wollknäuel, die um B herumwuselten und versuchten, an ihr hochzuklettern. So erzählte O das. Er erzählte auch, dass er einfach keine Widerworte fand, als B sagte, am liebsten würde sie alle mitnehmen. Und dass er sich wunderte, warum er keine Widerworte fand. Und dass er mit Überlichtgeschwindigkeit das Bild der sechs kleinen Gremlins in seinem Wohnzimmer mit allen anderen Plänen abglich, die auf dem Tisch lagen, und die Konsequenzen abwog, für einen kurzen Moment das Licht sah, metaphorisch natürlich, also vom Blitz oder sowas getroffen wurde, und eine seltsam irrationale Entscheidung traf. Nach eigenen Angaben hatte er B angesehen und gesagt: Ja, das müssen wir wohl.


    Waaaas, sagte ich, du kommst um die Ecke, und innerhalb einer Sekunde triffst du eine solche irrationale Entscheidung, weil deine Frau quietscht? Du? Du machst doch nie was Spontanes! Und wieso lächelst du eigentlich die ganze Zeit so komisch?


    Das Ganze ist jetzt fast ein Jahr her. Ich habe die beiden eigentlich gar nicht mehr gesehen. Wenn, dann immer nur kurz, wie letztens, als ich mir eine Motorsense geliehen hatte. Auf ein Bierchen im Kleingarten, mit den ganzen Viechern um mich herum.

    Die Kinder kämen öfter vorbei, und manchmal würden sie auch Hundesitting machen, wenn B & O mal für ein paar Tage wegfahren. Die haben Städte- und Kulturreisen für sich entdeckt. Historisch interessante Städte und deren Umland. Wie kürzlich: ein paar Tage im Salzkammergut. Okay. Keine Ahnung wo das ist. Ach, und endlich sei auch ein Enkelkind unterwegs, aber was es wird, das wissen auch die werdenden Eltern noch nicht.


    Die Hunde parieren auch tatsächlich gut. Gehorchen auf’s Wort. Alle Achtung. Und sie scheinen mich zu mögen, obwohl ich sie nicht mag. 

    Einer von ihnen sah irgendwie nicht so aus wie die anderen. Dunkler. Und etwas größer.


    Titch, ich glaub, O hat ihn im Kopf immer noch mit einem T in der Mitte buchstabiert, war gestorben am 14. Februar 2024. Er war plötzlich tot, und sie wussten nicht warum. Es hört sich so an, als ob für das Paar eine Welt zusammenbrach. 

    Und genau einen Monat danach, auch am fünfzehnten, fanden sie auf einer Rückfahrt von Hannover kommend an der Autobahnraststätte Goldbach einen Hund, der alleine angebunden an einer Bank saß und winselte und alle Leute ansah. Sie machten sich Gedanken, ja klar, aber vielleicht hat das ja alles seine Ordnung und Herrchen ist mal eben pinkeln. Sie fuhren weiter und drehten am Bremer Kreuz wieder um, fuhren zurück bis Verden Nord und drehten erneut. Und wieder zur Raststätte nach Langwedel. Der Hund war noch da und sah sie erwartungsvoll an, als sie sich näherten. Entweder eine Sie, dachten die beiden, oder auf dem Halsbandanhänger stand der Name der Besitzerin. Da war jedenfalls niemand nur mal eben weg zum Pinkeln. Der Hund war ausgesetzt. Auf dem Halsband stand Gertrud.


    O hat sich einen neuen Plattenspieler gekauft. Die sind ja wieder hipp. Und ein paar alte neu aufgelegte Platten. Das hat vielleicht alles so sein sollen, meint er. Auch mit Titch’s Unfall. So traurig wir darüber sind, meint er, wir können es nicht ändern. Er lächelte wieder dieses komische Lächeln. Gertrud ist jetzt in der Band.



    - Mark O’Beck, Oktober 2025